(ein noch nicht im Internet publizierter Text von Rosa Luxemburg von 1914; GW 3, S.410, erschienen in Sozialdemokratische Korrespondenz Nr. 27 am 5. März 1914)
Der Tag der Proletarierin eröffnet die Woche der Sozialdemokratie. 1 Die Partei der Enterbten stellt ihre weibliche Kolonne vor die Frontm indem sie zu dem heißen Achttagewerk auszieht, um die Samen des Sozialismus auf neue Äcker zu streuen, Und der Ruf nach politischer Gleichberechtigung der Frauen ist der erste, den sie erhebt, indem sie sich anschickt, für die Forderungen der gesamten Arbeiterklasse neue Anhängerscharen zu werben.
Die moderne Lohnproletarierin tritt so heute auf die öffentliche Bühne als die Vorkämpferin der Arbeiterklasse und Zugleich des ganzen weiblichen Geschlechts, die erste Vorkämpferin seit Jahrtausenden.
Schwer hat die Frau des Volkes seit jeher gearbeitet. In der wilden Horde schleppt sie Lasten, sammelt Lebensmittel; in dem primitiven Dorfe pflanzt sie Getreide, mahlt, formt Töpfe; in der Antike als Sklavin bedient sie die Herrschaft und säugt deren Sprößlinge mit ihrer Brust; im Mittelalter front sie in der Spinnstube des Feudalherrn. Aber seit das Privateigentum besteht, arbeitet die Frau des Volkes meist getrennt von der großen Werkstatt der gesellschaftlichen Produktion, also auch der Kultur, eingepfercht in die häusliche Enge eines armseligen Familiendaseins. Erst der Kapitalismus hat sie aus der Familie gerissen und in das Joch der gesellschaftlichen Produktion gespannt, auf fremde Äcker, in die Werkstätten, auf Bauten, in Büros, in Fabriken und Warenhäuser getrieben. Als bürgerliche Frau ist das Weib ein Parasit der Gesellschaft, ihre Funktion besteht nur im Mitverzehren der Früchte der Ausbeutung; als Kleinbürgerin ist sie ein Lasttier der Familie. In der modernen Proletarierin wird das Weib erst zum Menschen, denn der Kampf macht erst den Menschen, den Anteil an der Kulturarbeit, an der Geschichte der Menschheit.
Für die besitzende bürgerliche Frau ist ihr Haus die Welt. Für die Proletarierin ist die ganze Welt ihr Haus, die Welt mit ihrem Leid und ihrer Freude, mit ihrer kalten Grausamkeit und ihrer rauhen Größe. Die Proletarierin wandert mit dem Tunnelarbeiter aus Italien nach der Schweiz, kampiert in Baracken und trocknet trällernd ihre Säuglingswäsche neben Felsen, die mit Dynamitpatronen in die Luft fliegen. Als Saisonlandarbeiterin sitzt sie im Frühjahr im Lärm der Bahnhöfe auf ihrem bescheidenen Bündel, ein Tüchlein auf dem schlicht gescheitelten Kopfe, und wartet geduldig, um von Osten nach dem Westen verladen zu werden. Auf dem Zwischendeck des Ozeandampfers wandert sie mit jeder Welle, die das Elend der Krise von Europa nach Amerika spült, in der buntsprachigen Menge hungernder Proletarier, um, wenn die rückläufige Welle einer amerikanischen Krise aufschäumt, nach der heimatlichen Misere Europas, zu neuen Hoffnungen und Enttäuschungen, zur neuen Jagd nach Arbeit und Brot zurückzukehren.
Die bürgerliche Frau hat kein wirkliches Interesse an politischen Rechten, weil keine wirtschaftliche Funktion in der Gesellschaft ausübt, weil sie die fertigen Früchte der Klassenherrschaft genießt. Die Forderung nach weiblicher Gleichberechtigung ist, wo sie sich bei bürgerlichen Frauen regt, reine Ideologie einzelner schwacher Gruppen, ohne materielle Wurzeln, ein Phantom des Gegensatzes zwischen Weib und Mann, eine Schrulle. Daher der possenhafte Charakter der Suffragettenbewegung.2
Die Proletarierin braucht politische Rechte, weil sie dieselbe wirtschaftliche Funktion in der Gesellschaft ausübt, ebenso für das Kapital rackert, ebenso den Staat erhält, ebenso von ihm ausgesogen und niedergehalten wird wie der männliche Proletarier. Sie hat dieselben Interessen und benötigt zu ihrer Verfechtung dieselben Waffen. Ihre politischen Forderungen wurzeln tief in dem gesellschaftlichen Abgrund, der die Klasse der Ausgebeuteten von der Klasse der Ausbeuter trennt, nikcht im Gegensatz von Mann und Frau, sondern im Gegensatz von Kapital und Arbeit.
Formell fügt sich das Politische Recht der Frau in dem bürgerlichen Staat ganz harmonisch. Das Beispiel Finnlands, amerikanische Staaten, einzelner Gemeinden beweist, dass die Gleichberechtigung der Frauen den Staat noch nicht umstürzt, die Herrschaft des Kapitals nicht antastet. Da aber das politische Recht der Frau heute tatsächlich eine rein proletarische Klassenforderung ist, so ist es für das heutige kapitalistische Deutschland wie die Posaune des Jüngsten Gerichts. Wie die Republik, wie die Miliz, wie der Achtstundentag, kann das Frauenwahlrecht nur zusammen mit dem ganzen Klassenkampf des Proletariats siegen oder unterliegen, kann es nur mit proletarischen Kampfmethoden und Machtmitteln verfochten werden.
Bürgerliche Frauenrechtlerinnen wollen politische Rechte erwerben, um sich dann im politischen Leben zu betätigen. Die proletarische Frau kann nur der Bahn des Arbeitskampfes folgen, der umgekehrt jeden Fußbreit tatsächlicher Macht erringt, um dadurch erst die geschriebenen Recht zu erwerben. Im Anfang jedes sozialen Aufstiegs war die Tat. Die proletarischen Frauen müssen im politischen Leben durch ihre Betätigung auf allen Gebieten festen Fuß fassen, nur so schaffen sie sich ein Fundament für ihre Rechte. Die herrschende Gesellschaft verweigert ihnen den Zutritt zu den Tempeln der Gesetzgebung, aber eine andere Großmacht der Zeit öffnet ihnen breit die Tore – die Sozialdemokratische Partei. Hier, in Reih und Glied der Organisation, breitet sich vor der proletarischen Frau ein unübersehbares Feld politischer Arbeit und politischer Macht. Hier allein ist die Frau ein gleichberechtigter Faktor. Durch die Sozialdemokratie wird sie in die Werkstatt der Geschichte eingeführt, und hier, wo zyklopische Kräfte hämmern, erstreitet sie sich tatsächliche Gleichberechtigung, auch wenn ihr das papierne Recht einer bürgerlichen Verfassung versagt wird. Hier rüttelt die arbeitende Frau neben dem Manne an den Säulen der bestehenden Gesellschaftsordnung, und bevor ihr diese den Schein ihres Rechts zugesteht, wird sie helfen, diese Gesellschaftsordnung unter Trümmern zu begraben.
Die Werkstatt der Zukunft bedarf vieler Hände und heißen Atems. Eine Welt weiblichen Jammers wartet auf Erlösung. Das stöhnt das Weib eines Kleinbauern, das unter der Last des Lebens schier zusammenbricht. Dort in Deutsch-Afrika in der Kalahariwüste bleichen die Knochen wehrloser Hereroweiber, die von der deutschen Soldateska in den grausen Tod von Hunger und Durst gehetzt worden sind.3 Jenseits des Ozeans, den den hohen Felsen des Putumayo, verhallen von der Welt ungehört, Todesschreie gemarteter Indianerweiber in den Gummiplantagen internationaler Kapitalisten.
Proletarierin, Ärmste der Armen, Rechtloseste der Rechtlosen, eile zum Kampfe um die Befreiung des Frauengeschlechts und des Menschengeschlechts von den Schrecken der Kapitalsherrschaft. Die Sozialdemokratie hat dir den Ehrenplatz angewiesen. Eile vor die Front, auf die Schanze!
1 Im Jahr 1914 stand der Internationale Frauentag am 8. März im Zeichen des Kampfes für das Wahlrecht und die Gleichberechtigung der Frau. Mit diesem sozialdemokratischen Frauentag wurde die „Rote Woche“ der Partei vom 8. bis 15. März 1914 eingeleitet, die der Agitation für die Sozialdemokratie und ihre Presse diente. Als Ergebnis konnte ein wesentlicher Mitgliederzuwachs und eine Erhöhung der Abonnentenzahl für die Presse verzeichnet werden.
2 Als Suffragetten wurden in Großbritannien die Kämpferinnen für die politische Gleichberechtigung der Frauen, in erster Linie die Anhängerinnen der Frauenwahlrechtsbewegung bezeichnet.
3 Bei dem Unterdrückungsfeldzug 1904-1907 gegen die Hereros in Südwestafrika hatten die deutschen Kolonialtruppen die Eingeborenen in die Wüste getrieben und von den Wasservorkommen abgeschnitten. General Lothar von Trotha hatte Befehl gegeben, keine Gefangenen zu machen und auf Frauen und Kinder zu schießen, so dass die Hereros einem grausamen Tod ausgeliefert waren. Im Jahr 1904 hatten sich die Völker der Hereros und der Hottentotten gegen die Kolonialherrschaft des deutschen Imperialismus erhoben. Der Aufstand, der den Charakter eines Freiheitskrieges trug, endete mit einer verlustreichen Niederlage dieser Völker, nachdem die deutschen Kolonialtruppen drei Jahre lang mit äußerster Grausamkeit gegen sie vorgegangen waren.